Was ich liebte

Was, wenn Kinder sich nicht so entwickeln, wie Eltern es gerne hätten? Diese Frage stellte ich mir, als ich dieses Buch las und Marc, der Sohn des brillanten Malers, sich immer mehr veränderte.

Und Marc veränderte sich eindeutig zu seinem Nachteil. Was macht das mit den Eltern? Und waren die Eltern Schuld daran? – Ein durchschnittlicher Jugendlicher aus dem New Yorker Stadtteil SoHo wird immer mehr zu einer zwielichtigen Gestalt, die erst beim zweiten Hinsehen janusköpfig daherkommt. Auf dem ersten Blick ist Marc freundlich, doch beim näheren Hinhören entlarven ihn seine eher spärlichen und immer weniger höflichen Antworten als krankhaften oder auch niederträchtigen Lügner.

Leo Hertzberg, der das Ganze erzählt, gelingt es, durch differenzierte Beschreibungen Stimmungen unverfälscht wiederzugeben – ganz ohne langweilige Dialoge. Damit transportiert er die Befindlichkeit des Gegenübers brillant in das Kopfkino des Lesers, der Lesenden und allen, die sonst noch lesen. Und zwar so, dass sich die Lesenden fast als Teil des Buches begreifen. Sie stehen Marc gegenüber oder sehen sich in aller Detailliertheit ein Gemälde an, sie trauern mit den Familien um Matt, der bei einem Bootsunfall ums Leben kommt, oder führen ausführliche Gespräche über Hysterie, Essstörungen und Psychopathie.

Im New York der 1980-er Jahre lernen sich zwei Familien kennen, die Siri Hustvedt ersonnen hat. Deren Leben spielt sich zwischen Buchstaben ab. Sie lernen sich kennen und schätzen, weil sie Nachbarn werden. Der Erzähler: ein Kunsthistoriker. Sein Nachbar: ein Maler! So ist eine gemeinsame Basis schnell gefunden. Für das Lebensgefühl, für moralische wie ethische Werte und Normen, für gutes Essen und hervorragenden Wein. Das liefert Stoff für sehr viele Gespräche in der Küche des einen oder im Wohnzimmer des anderen Paares und im Grunde für all das, was im Leben zählt. Aber was im Leben zählt, ist nicht immer das, was darin wirklich passiert.

Schon bevor sich die beiden Familien kannten, verband sie etwas. Denn der Kunsthistoriker kaufte einst ein Bild des Malers, der einmal sein Nachbar werden sollte. Keiner konnte voraussehen, dass dessen Familiengeschichte auch Einfluss auf seine eigene nehmen wird. Vermutlich war es Violet, die zweite Frau des Malers, die auf dem Bild zu sehen ist, und auch die unmittelbare Abwesenheit ihrer Vorgängerin ist zu spüren. Und der Maler selbst ist im Bild: als Schatten, der auf dem dargestellten Frauenkörper ruht. Drei Personen – aber die Lebensgeschichte einer einzelnen Person. Das Bild nennt sich „Selbstportrait“. Und das wird im Eigentlichen erzählt. Es reflektiert sich aus der Geschichte einer Freundschaft zweier intellektueller Familien in New York, die Glück und Leid miteinander teilen.

Aber die geheime Wahrheit steht eigentlich hinter dem Geschriebenen. So wie bei dem erwähnten Gemälde. Das Buch wie auch das Bild beschreibt große Lieben und freundschaftliche Verbundenheit, es zeigt den Lebensalltag im Gegensatz zu geplanten Lebensentwürfen. Denn das Leben fügt große intellektuelle Höhenflüge, vernünftige Trennungen, viele Enttäuschungen und einen schrecklichen Schicksalsschlag hinzu. Wir lesen das Leben von Bill Wechsler, Lucille und Violet, aber auch von Leo Hertzberg und Erica. Wir verstehen Abschiede, die sich schleppend vollziehen, bis Violet den letztendlichen Ausschlag gibt. Stehen zusammen ungläubig mit allen vor der chimärenhaften Wandlung von Bills Sohn Marc, der einen immer seltsameren Charakter zur Schau trägt. Und wir trauern mit Leo und Erica um ihren viel zu früh verstorbenen Sohn Matt. Auch hier drängt sich die Frage auf: Was, wenn Kinder sich nicht so entwickeln, wie Eltern es gerne gehabt hätten? Wenn sie gehen anstatt zu bleiben. Ist das schlimmer, als sich in einen nicht vorgesehenen Psychopathen zu verwandeln?

Und dabei gewährt uns Siri Hustvedt Einblick in intellektuelle, ostamerikanische Lebensentwürfe des 20. Jahrhunderts, die durch Lügen, Täuschung und Betrug ins Wanken geraten und damit viel offen lassen. Vor allem für das emotionale Labyrinth eines Jugendlichen, der auch einen Freund verloren hat und wie es scheint, der in seinem bürgerlichen Leben noch einer anderen, absurden Welt Raum gibt. Sie erfindet Figuren, sie erschafft ganze Welten in unseren Köpfen und lässt sie wieder zerplatzen.

Ich bin mir nicht sicher, ob Liebe alles entschuldigt‟

Siri Hustvedt

„Die Zeit“ schreibt über dieses Buch, es sei „eine meisterhafte Reflexion über das allmähliche Schwinden von Liebe“. Das stimmt. Stück für Stück wird sie aufgebraucht von der vorhandenen Trauer, die keinen Platz lässt für die Bedürfnisse des anderen. Sie wird aber auch aufgefressen von den vielen Rückschlägen der unheimlich vielen Vertrauensvorschüsse, die eines besseren belehrt wurden. Wer schon einmal mit einem notorischen Lügner zu tun hatte, weiß, wovon ich spreche. Nämlich von der Fassungslosigkeit, die einsetzt, wenn das nicht Vorstellbare wahr wird. Und genau an diesem Punkt zeigt sich die Fragilität von Beziehungen und stellt sich in der Tat die Frage, ob Liebe alles entschuldigt.

Siri Hustvedt: „Was ich liebte“